Goldfisch-Gedächtnis: Mythos oder Wissenschaft?
„Ein Goldfisch hat nur ein Drei-Sekunden-Gedächtnis“ – diese Behauptung hält sich hartnäckig, ist aber kaum mehr als ein populärer Irrglaube. Wer hätte gedacht, dass ein kleiner Aquarienbewohner zum Symbol für Vergesslichkeit avanciert? Doch was ist dran an diesem Mythos? Und was weiss man heute wirklich über die Intelligenz von Fischen? In diesem Artikel werfen wir einen sachlichen Blick auf aktuelle Forschungsergebnisse, räumen mit alten Klischees auf – und ziehen überraschende Parallelen zur Arbeitswelt.
Mythos Goldfisch: Woher kommt die Behauptung?
Die Vorstellung, dass Goldfische ein Gedächtnis haben, das nicht länger als ein paar Sekunden hält, ist seit Jahrzehnten weit verbreitet. Warum? Vielleicht, weil es als Entschuldigung für eigene Vergesslichkeit dient („Ich hab’s vergessen – Goldfisch-Gedächtnis eben!“), oder weil sich Menschen schlicht nicht vorstellen können, dass Fische zu kognitiven Leistungen fähig sind.
Doch seriöse wissenschaftliche Studien zeigen ein anderes Bild. Goldfische – genauer gesagt Karpfenartige (Cyprinidae) – verfügen über eine deutlich ausgereiftere Gedächtnisleistung, als gemeinhin angenommen.
Die Wissenschaft spricht: Goldfische sind lernfähig
Bereits in den frühen 2000er-Jahren führte ein Team der University of Plymouth Experimente zur Lernfähigkeit von Goldfischen durch. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Tiere darauf trainiert werden konnten, sich an bestimmte Zeiten zu erinnern – und zwar bis zu einer Woche lang. In späteren Studien wurde diese Gedächtnisleistung sogar auf mehrere Monate ausgeweitet.
Goldfische lernen beispielsweise:
- auf akustische oder visuelle Signale zu reagieren (z.B. Klingeln für Futterzeit)
- Labyrinthstrukturen zu durchschwimmen und sich an den Weg zu erinnern
- zwischen verschiedenen Formen oder Farben zu unterscheiden
Solche Lernprozesse setzen ein funktionierendes Langzeitgedächtnis voraus. Aus Sicht der Neurowissenschaft ist das faszinierend – denn Fische besitzen keine Grosshirnrinde wie der Mensch. Trotzdem entwickeln sie komplexe Verhaltensmuster, die auf Erfahrung beruhen.
Kognitive Fähigkeiten unter Wasser: Ein unterschätzter Bereich der Verhaltensforschung
Lange Zeit galt unter Verhaltensbiologen das Dogma, dass Intelligenz mit der Grösse des Gehirns zusammenhängt. Doch immer mehr Studien legen nahe, dass auch Tiere mit „kleinem Hirn“ komplexe Entscheidungen treffen und Probleme lösen können – etwa beim Nahrungserwerb, bei der Flucht vor Fressfeinden oder bei der sozialen Interaktion.
Ein Beispiel aus der Forschung:
Ein Test mit Putzerfischen (Labroides dimidiatus) zeigte, dass diese ihr Spiegelbild als eigenes erkennen können – ein Hinweis auf Selbstbewusstsein, das bis dahin nur bei grossen Primaten vermutet wurde. Auch Buntbarsche (Cichliden) navigieren in komplexen sozialen Hierarchien und sind in der Lage, numerische Informationen zu verarbeiten.
Was hat das Ganze mit dem HR-Alltag zu tun?
Gute Frage. Auch wenn HR-Abteilungen selten Aquarien managen (ausser vielleicht im Wartezimmer), gibt es hier wertvolle Parallelen. Das Goldfisch-Gedächtnis ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie sich über Generationen hinweg falsche Annahmen halten können. Genau diese Art von „organisationalem Mythos“ begegnet uns im Unternehmenskontext ebenfalls immer wieder.
Dazu zählen Aussagen wie:
- „New Work funktioniert nur bei Start-ups“
- „Homeoffice senkt die Produktivität“
- „Mitarbeitende über 50 sind nicht mehr lernfähig“
Diese Aussagen sind bequem und scheinbar einleuchtend – doch sie halten einer datenbasierten Prüfung oft nicht stand. Wer ein HR-Team leitet, ist gut beraten, solche Mythen kritisch zu hinterfragen, statt sie unhinterfragt weiterzugeben. Genau wie beim Goldfisch lohnt sich ein zweiter Blick oft enorm.
Mythosbildung und Confirmation Bias
Warum halten sich solche Behauptungen überhaupt so lange? Die Psychologie kennt dafür mehrere Erklärungen, unter anderem den sogenannten Confirmation Bias. Menschen neigen dazu, Informationen zu bevorzugen, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen, während widersprechende Fakten ignoriert oder heruntergespielt werden.
Im HR-Alltag begegnet einem das z. B. bei der Kandidatenauswahl oder der Leistungseinschätzung: Hat man einmal eine bestimmte Meinung über jemanden gebildet, neigt man dazu, nur noch die passenden Indizien wahrzunehmen. Alles andere wird ausgeblendet – ganz wie der Mythos vom vergesslichen Goldfisch.
Was wir daraus lernen: Denken in Hypothesen, nicht in Dogmen
Der Fall des Goldfisch-Gedächtnisses ist ein Lehrstück in wissenschaftlichem Denken: Nicht jede weit verbreitete Meinung ist korrekt. Und nicht jedes Verhalten lässt sich auf den ersten Blick richtig deuten. Für Führungskräfte und HR-Verantwortliche heisst das: Einsichten entstehen nicht durch Annahmen, sondern durch Beobachtung, Daten und Offenheit gegenüber neuen Erkenntnissen.
Forschung bedeutet: Hypothesen aufstellen – und dann testen. Scheitert die Hypothese, war sie falsch. Punkt. Genau dieser Denkstil ist in Unternehmen oft unterrepräsentiert, obwohl er enorm effektiv wäre. Fragen wie „Was ist unsere Hypothese zur Mitarbeitermotivation?“ oder „Wie misst sich eigentlich gutes Employer Branding?“ schaffen Raum für evidenzbasiertes Arbeiten, statt sich auf Bauchgefühl und Annahmen zu verlassen.
Was heisst das konkret für die HR-Praxis?
Einige praktische Empfehlungen:
- Hinterfragen Sie weit verbreitete Annahmen kritisch. Gibt es dazu Daten? Oder „wissen das halt alle“?
- Suchen Sie aktiv nach Gegenbelegen für Ihre Überzeugungen – besonders wenn Sie Entscheidungen mit grosser Tragweite treffen.
- Fördern Sie in Ihrem Team einen wissenschaftlich informierten Diskurs. Was denken wir, und wie können wir das testen?
- Nutzen Sie systematisches Feedback – z. B. durch Pulse Surveys oder A/B-Tests im Recruiting – um Hypothesen zu überprüfen.
Damit lässt sich langfristig nicht nur Ihre HR-Strategie optimieren, sondern auch die Innovationsfähigkeit des gesamten Unternehmens steigern.
Und der Goldfisch?
Hat in diesem Artikel vielleicht nicht die Hauptrolle gespielt – aber eine wichtige Nebenrolle. Als Symbol für ein Phänomen, das uns im HR-Alltag nur allzu bekannt vorkommt: Vermeintliche Gewissheiten, die bei näherem Hinsehen bröckeln. Und als Mahnung, unsere Entscheidungen nicht länger auf Mythen, sondern auf Wissen zu gründen.
Also: Vielleicht erinnern wir uns das nächste Mal, wenn wir wieder etwas „einfach wissen“, lieber an den Goldfisch – und stellen die Frage: Stimmt das wirklich?