Die aktuelle Realität im Schweizer Arbeitsrecht: Zwischen Flexibilität und Rechtssicherheit
Wer in der Schweiz Personalverantwortung trägt, steht derzeit unter doppeltem Druck: Einerseits verlangt der Arbeitsmarkt nach mehr Flexibilität – Stichwort Homeoffice, Freelancing und « Work-Life-Integration ». Andererseits gilt es, rechtliche Rahmenbedingungen einzuhalten, die komplexer und dynamischer denn je sind. Besonders kleinere bis mittlere Unternehmen (KMU) kämpfen mit der Herausforderung, das Gleichgewicht zwischen Agilität und Rechtskonformität zu finden.
Doch was sind die konkreten Herausforderungen im Schweizer Arbeitsrecht aktuell – und welche Lösungen sind in Sicht? Im folgenden Artikel werfen wir einen praxisorientierten Blick auf die drängendsten Fragen für Unternehmen und Arbeitnehmende in der Schweiz.
Herausforderung 1: Homeoffice und mobiles Arbeiten – Grauzonen im Gesetz
Mobiles Arbeiten wurde in der Pandemie zur Notwendigkeit und ist seither zur Normalität geworden. Doch während viele Betriebe flexible Modelle fördern, hinkt das Arbeitsrecht hinterher. Die gesetzlichen Bestimmungen zum Homeoffice sind offen formuliert und führen in der Praxis zu Unsicherheiten.
Beispielfragen, die immer wieder auftauchen:
- Muss der Arbeitgeber die Infrastruktur zuhause bezahlen?
- Wer haftet bei Arbeitsunfällen im heimischen Büro?
- Wie kann die Arbeitszeit korrekt erfasst werden, wenn Mitarbeitende mobil arbeiten?
Pragmatischer Lösungsansatz: Es empfiehlt sich, Homeoffice-Regelungen vertraglich zu fixieren – idealerweise in einem Anhang zum Arbeitsvertrag. Dabei sollten Punkte wie Arbeitszeiterfassung, Datenschutz, Arbeitsmittel und Erreichbarkeit klar geregelt sein. Einige Firmen in der Schweiz (z.B. Swisscom oder Raiffeisen) haben bereits strukturierte Homeoffice-Richtlinien eingeführt, die rechtliche Klarheit schaffen – auch für HR und Vorgesetzte.
Herausforderung 2: Krankheitsbedingte Absenzen und der Trend zur psychischen Belastung
Psychische Erkrankungen gehören heute zu den häufigsten Gründen für längere Arbeitsausfälle. Laut einer Studie von Gesundheitsförderung Schweiz haben sich die krankheitsbedingten Arbeitsausfälle wegen Stress und Burnout in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt.
Für Arbeitgebende stellt sich dabei oft die Frage:
- Wie lange muss ich den Lohn fortzahlen?
- Darf ich kündigen, wenn eine Langzeitabsenz vorliegt?
- Welche Rolle spielt die Versicherung?
Operative Lösung: Die Kombination aus Krankentaggeldversicherung und gut dokumentierten Prozessen ist entscheidend. Unternehmen sollten sicherstellen, dass HR und Linie über klare Abläufe bei Langzeiterkrankungen verfügen – inklusive Rückkehrgespräche, stufenweisem Wiedereinstieg und Kooperation mit medizinischem Fachpersonal. Gerade kleinere Firmen unterschätzen häufig, wie wichtig eine saubere Dokumentation in solchen Fällen ist.
Herausforderung 3: Datenschutzgesetz und Mitarbeiterdaten im Fokus
Seit Inkrafttreten des neuen Datenschutzgesetzes (nDSG) im September 2023 stehen Arbeitgeber besonders im Umgang mit Personaldaten unter Beobachtung. Die Anforderungen sind gestiegen – sowohl hinsichtlich Transparenz als auch bezüglich technischer und organisatorischer Massnahmen.
Was bedeutet das konkret für den HR-Alltag?
- Jede Bearbeitung von Personaldaten muss dokumentiert und begründet sein.
- Kandidaten haben das Recht, Auskunft über gespeicherte Daten zu verlangen.
- Datenübermittlungen ausserhalb der Schweiz (z.B. bei internationalen Tools) unterliegen strengen Auflagen.
Umsetzbare Lösung: Unternehmen sollten ein internes Verzeichnis der Bearbeitungstätigkeiten führen – was keine Hexerei ist, aber Disziplin verlangt. Eine Checkliste für HR-Systeme, Bewerbungsprozesse und Personalakten hilft, Datenschutz auf operativer Ebene wirklich umzusetzen. Externe Tools sollten zudem auf ihre DSGVO- und nDSG-Konformität hin überprüft werden – nicht alles, was funktioniert, ist auch erlaubt.
Herausforderung 4: Befristete Verträge, Probezeit & Scheinselbständigkeit
Flexibilisierung hat auch Schattenseiten. Immer wieder geraten Unternehmen ins Visier von Kontrollbehörden, wenn etwa Praktikant:innen zur Dauerkraft werden oder freie Mitarbeitende de facto weisungsgebunden arbeiten. Verdacht auf Scheinselbständigkeit kann teuer werden – nicht nur finanziell, sondern auch reputationsseitig.
Was oft schiefgeht:
- Verlängerungen von befristeten Verträgen ohne Unterbruch
- Missbrauch der Probezeit für kurzfristige Kündigungen
- Falsche Einordnung von Freelancern ohne Sozialversicherungsbeiträge
Rechtskonforme Vorgehensweise: Regelmässige Schulungen der HR-Teams zu Vertragsarten und Sozialversicherungspflichten sind empfehlenswert. Zudem: Im Zweifel ist eine freiwillige Vorabprüfung durch die AHV-Ausgleichskasse sinnvoll – insbesondere bei grenzüberschreitender Zusammenarbeit oder atypischen Beschäftigungsformen. Ein ehrlicher Reality-Check schützt vor späteren Korrekturen.
Herausforderung 5: Kündigungsschutz und faire Trennungsprozesse
In wirtschaftlich herausfordernden Zeiten (z.B. wegen Inflation, Kostendruck oder Umstrukturierung) bleibt Kündigung oft unvermeidlich. Doch die Gratwanderung zwischen unternehmerischer Notwendigkeit und fairer Behandlung ist sensibel. Gerade wenn Krankheit, Schwangerschaft oder Betreuungspflichten im Spiel sind, ist Vorsicht geboten.
Praxisprobleme betreffen häufig:
- Kündigung während Sperrfristen (Art. 336c OR)
- Formfehler bei betriebsbedingten Entlassungen
- Unverhältnismässige Freistellungen ohne klare Vereinbarung
Empfehlung aus der Praxis: Kündigungen sollten in der Schweiz nie « aus dem Bauch heraus » erfolgen – selbst bei klaren Leistungsproblemen. Eine Checkliste zur Prüfung von Kündigungsgründen und Sperrfristen ist Pflicht. Zudem lohnt es sich, ein professionelles Trennungsgespräch mit einer fairen Offboarding-Strategie zu verbinden. Viele Firmen (z.B. SBB oder PostFinance) arbeiten heute mit Outplacement-Angeboten, die beiden Seiten helfen – das ist nicht nur menschlich, sondern auch markenbildend.
Was Unternehmen jetzt tun können: 5 Tipps für mehr Rechtssicherheit im Alltag
Die oben genannten Herausforderungen zeigen: Arbeitsrechtliche Risiken lassen sich nicht ganz vermeiden – wohl aber systematischer managen. Wer proaktiv agiert, spart im Ernstfall nicht nur Geld, sondern stärkt auch das Vertrauen der Mitarbeitenden in die Organisation.
Hier fünf konkrete Handlungsempfehlungen:
- Regelmässige Weiterbildung der HR-Verantwortlichen im Arbeitsrecht – idealerweise mit Fokus auf aktuelle Urteile und Praxisfälle.
- Juristische Prüfung von Standardverträgen im Unternehmen alle 1–2 Jahre.
- Klare Richtlinien zu Homeoffice, Arbeitszeiten und Datenschutz – schriftlich, verständlich und für alle zugänglich.
- Einführung eines digitalen HR-Tools mit automatisierter Fristenkontrolle (z.B. für Zeugnisse, Kündigungsfristen, Lohnfortzahlung).
- Aufbau einer internen Beratungshotline oder eines Ansprechpartners für arbeitsrechtliche Fragen.
Die Zukunft des Arbeitsrechts: Zwischen Anpassung und Agilität
Das Schweizer Arbeitsrecht gilt international als liberal – doch genau diese Offenheit führt in der Praxis oft zu Auslegungsfragen. Der Trend geht klar in Richtung Individualisierung der Arbeitsverhältnisse, was HR und Geschäftsleitungen stärker in die Verantwortung nimmt.
Wer auf Standards setzt und gleichzeitig die nötige Flexibilität bietet, ist im Vorteil. Das heisst im Klartext: Weg vom Gießkannenprinzip, hin zu massgeschneiderten Arbeitsmodellen – auf einer rechtlich sauberen Grundlage.
Am Ende bleibt der wohl wichtigste Rat: Ein gutes Arbeitsverhältnis beginnt nicht mit dem Vertrag, sondern mit einer sauberen Haltung. Und gutes HR ist immer auch gutes Risikomanagement – gerade im Dschungel des modernen Arbeitsrechts.